Erst die Diagnose….dann das Rezept

In meiner Praxis erlebe ich es oft, dass mich Patienten fragen, warum nicht schon vorher spezielle Blutwerte oder Untersuchungen zu ihrem Problem gemacht worden sind. Oftmals fallen dann negative Äußerungen gegen die Vorbehandler. Manchmal auch nicht zu Unrecht: Denn häufig kommen die Patienten schon mit den richtigen Blutbefunden (mit positiven Ergebnissen) zu mir, nur keiner hat sie ihnen ausführlich erklärt. Die Folge ist eine Odysee.
Ich denke, dass es einen wichtigen Grundsatz in der Behandlung eines Menschen gibt. Er lautet: “Erst die Diagnose, dann das Rezept.”
Wer sich bei der Diagnosestellung keine Mühe gibt, der kann kein geeignetes Rezept ausstellen. Am Beispiel der Migräne kann man dies gut sehen. Viele Arztgespräche laufen so: “Migräne? MRT okay? Aha: Nehmen Sie Triptane.”
Für mich ist der Grundsatz “Erst die Diagnose, dann das Rezept” in diesem Beispiel nicht erfüllt. Fragen zum Hormonsystem, zur Verdauung, zum Schlaf, zu Lebensgewohnheiten, zur Ernährung u.s.w. gehören in ein umfangreiches Diagnosegespräch. Erst dann kann man sich über das Rezept (die Behandlung) Gedanken machen.

Wir Ärzte liegen zwar in der Statistik der angesehensten Berufe auf Rang 3 (vorher kommen noch Krankenschwestern und an der Spitze stehen Feuerwehrleute), aber wir handeln in der Gesamtheit meistens nicht nach dem wichtigen Grundsatz “Erst die Diagnose, dann das Rezept.” Die Doktorarbeit von Teresa Bär aus Dresden untermauert dies.

In dieser Berliner Studie hat man herausgefunden, dass der Arzt im Durchschnitt den Patienten 19 Sekunden nach Gesprächsbeginn unterbricht. Im Gegenzug hat man herausgefunden, dass die Ärzte vermuten, dass der Patient cirka 3,5 Minuten Redezeit in Anspruch nehmen möchte. In der Tat reichen dem Patienten durchschnittlich 64 Sekunden! um dem Arzt alles Wichtige mitzuteilen.

“Erst die Diagnose, dann das Rezept” ist für mich der wichtigste Grundsatz bei der Behandlung von Menschen. Durch gutes Zuhören kann man als geschulter Arzt sehr viel über das Krankheitsbild des Patienten erfahren.
Bei einem neuen Migränepatienten höre ich cirka 30 Minuten nur zu und stelle dann cirka 20 Minuten Fragen. Erst dann kann ich mir ein Bild von der Vielschichtigkeit seines Leiden machen.

Wie wollen wir mehr Zusammenhänge der Migräne über andere Organe erfahren, wenn wir uns mit den Patienten nicht richtig unterhalten?

“Erst das Rezept, dann die Diagnose” habe ich auch mal gelernt: Und zwar in der Notfallmedizin. Dieser wichtige Leitsatz rettet Leben! Durch das schnelle Eingreifen eines Notarztes mit Medikamenten und Infusionen kann man Zeit gewinnen, damit man sich nach einigen Minuten überlegen kann, warum der Patient in die bedrohliche Situation geraten ist.
Dieser Leitsatz sollte aber nur für die Notfallmedizin gelten, in allen anderen Medizinbereichen ist er fehl am Platz.

Bleiben Sie gesund!

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